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Learning from Disasters – oder auch nicht? Teil 2.785

Aktuell sind relativ zeitgleich zwei Berichte erschienen über die Ereignisse bei einem Fußballspiel in Indonesien, bei dem 134 Menschen ums Leben kamen und beim Champions League Finale 2022 – und beide Fälle erinnern eklatant an die Ereignisse in Hillsborough 1989.

Blicken wir daher zurück auf die Ereignisse 1989: Über einen langen Zeitraum wurde sowohl von den Behörden als auch den Medien die Schuld den Fans gegeben – um genau zu sein, bis zur neuen Untersuchung über 20 Jahre später [LINK]. In dieser neuen Untersuchung wurden unter anderem bisher gesperrte Polizeidokumente gesichtet – mit vollkommen neuen Erkenntnissen: Nicht das Verhalten der Fans war Grund für die Ereignisse, sondern unangemessene infrastrukturelle Voraussetzungen, eine schlechte Planung insgesamt und Fehlentscheidungen der Polizei.

Blickt man nun auf den Bericht des „independent panel“, das sich mit der Aufarbeitung der Ereignisse rund um das Champions League Finale im Stade d`France beschäftigt hat und vergleicht diese mit den frühen Berichterstattungen über das Ereignis, in denen der Fokus vor allem auf den Reaktionen der Fans, die für die Entwicklungen verantwortlich gemacht wurden, lag, ergibt sich auch hier ein „bekanntes“ Bild: Planungsversagen, schlechte Organisation und unangemessene Reaktion der Polizei.

Szenen, wie die im Bericht beschriebenen, erinnern an Ereignisse, die man aus Ländern mit deutlich höherer Kriminalitätsrate kennt („On leaving the stadium, they were attacked at knife-point by gangs who stole their possessions,“). Und wenn die Planungsfehler tatsächlich so bestanden haben sollten, wie sie im Bericht beschrieben werden, dann wäre das im Kontext „Fußball/Stadion (Stade d´France!)/und-dann-auch-noch-Champions-League“ mindestens einmal erstaunlich – im Kontext der Historie der Tragödien in Fußballstadien ehrlicherweise aber eher dramatisch. Der Report wird wie folgt zitiert:

The report said that before the game, about 15,000 Liverpool supporters were caught in a bottleneck near an underpass, after a decision to take down signage meant fans were only directed down one route to the stadium.

The panel found that as the build-up outside the Stade de France became increasingly dangerous, a ticket checkpoint was removed, releasing fans on to the concourse, but event organisers had shut some stadium gates to control the situation, which had been exacerbated by hundreds of local people trying to enter without tickets.

Insbesondere der letzte Absatz bereitet wohl all denen, die sich schon einmal mit dem „The Who“ Disaster in Cincinnati (1979) beschäftigt haben, Schnappatmung: Türen öffnen, um den Druck zu entlasten; dann die Türen schließen, um den Einlass zu kontrollieren – das ist ja nachweislich schon einmal schiefgegangen.

Getoppt (im negativsten aller Sinne) wurde das Ganze dann noch durch den Einsatz von Tränengas. Hier heißt es:

French authorities used tear gas, with children, elderly and disabled people caught up in the chaos, and riot police were deployed, despite Merseyside Police’s pre-match intelligence report stating that Liverpool fans were well-behaved in Europe and did not appreciate the use of heavy-handed policing.

und man fragt sich doch ernsthaft: warum?

Wer uns kennt, der weiß, dass wir zum einen immer für eine gute Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten plädieren und dass wir zum anderen immer auf die jeweils unterschiedliche „Sicherheitssozialisation“ der handelnden Beteiligten hinweisen. Besonders eklatant wird dies in der Zusammenarbeit mit der Polizei, deren Umgang mit Menschenmengen ganz häufig geprägt ist von Crowd Control Maßnahmen, denen nicht immer das allerbeste Menschenbild zu Grunde liegt. Um das ganz klar zu sagen: Ich (Sabine) möchte auch nicht in der Haut der Polizisten und Polizistinnen stecken, die angegriffen und angepöbelt werden, die unter Einsatz ihrer Gesundheit und manchmal tragischerweise ihres Lebens arbeiten müssen.

Aber das kann und darf keine Begründung sein, schon gar keine Entschuldigung. Hier gilt immer noch der Verweis auf Fruin „Schlecht geplante Crowd Control Maßnahmen haben Unglücke eher verschlechtert als sie verhindert“ und es wird sicherlich Zeit, dass die Grundlagen eines proaktiven Crowdmanagements Eingang in die Lehrbücher finden. Aussagen und daran angeknüpfte Maßnahmen, die auf die veraltete und auf Repression des Menschen ausgerichtete Theorien von Gustave LeBon zurückgehen (z.B. in Haselow & Meyer (1997). Massenverhalten und polizeiliches Handeln. Verlag deutsche Polizeiliteratur) müssen der Vergangenheit angehören.

Und tatsächlich liest sich der Bericht dann auch wie ein Musterbeispiel zur Erklärung der Theorie der Sozialen Identität. In- und Out Group par excellence – leider – wie es scheint – vor allem durch die Polizei getragen.

Nicht viel anders scheint es sich in Indonesien abgespielt zu haben [LINK].

Die Ergebnisse einer interdisziplinär zusammengesetzten Gruppe werden wie folgt zitiert:

The fact-finding team found the police personnel on duty had no knowledge of the prohibition of tear gas at soccer matches. The tear gas had been fired „indiscriminately“ and the officers had employed „excessive“ measures, it said.

The police have sought to play down their role in the tragedy, emphasising that narrow doors in the over-capacity stadium, exacerbated the crush. (ebd)

Wir werden nicht weiterkommen, wenn immer wieder die gleichen Fehler gemacht werden, wenn sich ganze Organisationen schlicht weigern, ihre Sichtweise zu überdenken, möglicherweise anzupassen.

Ignoranz, Arroganz, Verweigerung waren schon immer der größte Feind einer interorganisationen Sicherheitsplanung – und werden es wohl auch noch eine Weile bleiben …

„Wir sind Wissensriesen und Umsetzungszwerge“ (Karen Kuschik, 2022)

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